Die Frage aller Fragen

Die Kernfrage scheint mir die  Folgende sein: Lohnt sich der mühevolle Weg, Lösungsmöglichkeiten für die Verteilungs-, Verknappungs- und Pollutionskrisen erstens zu erarbeiten und sie sodann, wenn irgend möglich, auch umzusetzen? Oder gerät man dadurch gegenüber jenen, die rücksichtslos alle Vorteile und Machtmittel nutzen, um sich die begrenzten Ressourcen der Welt zu arrogieren, ins Hintertreffen? Kann man den mühsam erarbeiteten Standard, das eigene Überleben in Würde durchsetzen? 

(Die bisher veröffentlichten Episoden dieser Serie finden sich unter https://www.facebook.com/kwoltron/notes)

Beispiele für eine gewalttätige Art der Problemlösung gibt es genug – von der Gewaltherrschaft der Ägypter, Perser und Römer über die Ausbeutungssysteme des Mittelalters bis hin zu den rücksichtslosen Kolonisatoren der Neuzeit. Gewalt wurde und wird genutzt, um Rohstoffe, Energie und bewohnbaren Raum ungleich zu verteilen – bis hin in unsere Tage. Warum sollte dieser Trend bei einer Zunahme des absehbaren Mangels auf einmal der Vernunft weichen? Diese "Frage aller Fragen" soll in der "Hierarchie der Risiken" erörtert werden, wenn die Liste der vernünftigen, friedlichen Lösungsmöglichkeiten und ihrer praktischen Durchsetzungsfähigkeit abgehandelt ist.  

Inwieweit  man eine massive Systemkrise – bis hin zu totalem kriegerischem Chaos − hinnehmen wird müssen, bevor man sich zu einer Änderung entschließt (oder dazu gezwungen wird), ist einer der wichtigsten Gegenstände der folgenden Betrachtungen. Die weltweite Diskussion über Lösungsmöglichkeiten hat  jedenfalls den Charakter eines Glaubenskrieges angenommen. Schon bei der Definition der Begriffe „Neoliberalismus“[i]und „Globalisierung“[ii] scheiden sich die Geister. Die meisten scheinen sich die Mühe einer Begriffsbestimmung gar nicht gemacht zuhaben.  

Die Proponenten der diversen Lager ergehen sich in einander diametral entgegengesetzten Beschwörungen von Untergangsszenarien, vom unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch der Ökosphäre, einem analogen Vorgang auf der wirtschaftlichen Ebene, vom Heraufdämmern neuer Weltkriege bis hin zu bevorstehenden Überflutungen ganzer Küstenregionen, die mehr oder weniger emphatisch vorgetragen werden. Dabei gibt es nicht wenige (wiederum in beiden Lagern),welche ihre ganze Existenz auf der Diskussion dieser Problematik aufgebaut haben und demzufolge von einer möglichst hohen Lautstärke, übertrieben katastrophalen Szenarien und einer bedeutenden Selbstinszenierung profitieren.Die hauptberuflichen Untergangspropheten aller Lager sind ja auf die drastischen Szenarien angewiesen, um ihre Bedeutung zu verstärken und die eigene Existenz zu sichern. Diese Kakophonie übertönt die leiseren Anstrengungen in Richtung einer sachlichen Herangehensweise vollkommen,obgleich, wie die dargelegten Argumente zeigen werden, eine ohne große Katastrophen und Zusammenbrüche denkbare Lösung nur auf genau diesem sachlichen, nachdenklichen Weg erreichbar wäre.[iii]

Diese nüchterne Einsicht schicke ich aus gutem Grund voraus. Sie sollte dazu anregen, das Thema und die sich daraus ergebenden Vorschläge aus der Sicht eines über mehrere Jahrzehnte in Großorganisationen, international verantwortlich Tätigen und selbständigen Unternehmers gelassen Revue passieren zu lassen. 

Treibende und stabilisierende Mechanismen

Wie alle systemischen Prozesse unterliegen auch die weltumspannenden Netzwerke des Neoliberalismus und der Globalisierung der ungemein komplexen Wechselwirkung zwischen treibenden und stabilisierenden Kräften, Motivationen und Interessen. Erst wenn man sich dies vor Augen geführt hat, kann man beginnen, mit einiger Aussicht auf Erfolg über korrigierende Maßnahmen nachzudenken. Genau in jener Komplexität und Interdisziplinarität liegt die eine Hälfte des Problems, Wege aus dem Irrgarten zu finden. Die zweite Hälfte, noch ungleich schwieriger, wäre jene, die störrische, uneinsichtige und von widerstreitenden Gruppeninteressen getriebene Menschheit dazu zu bringen, die vorgeschlagenen Wege denn auch zu beschreiten. Bevor man sich zum zweiten Teil des Problems aufmacht, sei erst einmal der erste angegangen.  

Jeder partikularistische Vorschlag, mag er noch so gut gemeint sein, ist zum Scheitern verurteilt, nimmt er nicht auf die geschilderten systemischen Umstände gebührend Rücksicht. Katastrophale Folgen hatten zum Beispiel, wie die Geschichte zeigt (und wie es offensichtlich schon wieder vergessen oder verdrängt wird) der Versuch, den Egoismus des Menschen einerseits durch Kollektivierung zu negieren (Kommunismus) oder andererseits durch völlige Lenkung in streng hierarchisch organisierter Form (Autokratie, Faschismus,Ständestaat) zu konzentrieren. Fundamentale Systemänderungen führten stets,abgesehen von seltenen Ausnahmen einzelner „weiser Staatenlenker[iv]“ die nicht lange währten,  zur wirtschaftlichen und militärischen Katastrophe, zur Entmenschlichung und zum millionenfachen Massenmord: Hitler,Stalin, Mao,  Pol-Pot etc.  

Treibende Kräfte des Kapitalismus

·       Erstes Gebot:Verzinsung des eingesetzten Kapitals

·       Anonymer Verzinsungsdruck in Kapitalgesellschaften

·       Nutzung der Macht des Geldes, Käuflichkeit, Korrumpierung

·       Arbeitsplatzwirkung und Vollbeschäftigung

·       Nutzung der Macht des Geldes, Käuflichkeit, Korrumpierung

·       Wirtschaftlich-militärische Interessen

Kräfte, die das kapitalistische System stabilisieren

·        Kapitalalakkumulation       

·        Machterwerb und‑ erhalt

·       Lust an Gestaltung und Herrschaft

·       Absicherung der Existenz und Lebensart

·       Streben nach Geltung, Dauer und Unsterblichkeit

·       Individuelle Existenzsicherung

Es handelt sich dabei,wie unschwer zu erkennen ist, um eine Reihe positiver Rückkopplungen(Selbstverstärkung, im Extremfall „Teufelskreis“), welche in den treibenden Kräften – Machtlust, Vermehrung von Vermögen, Existenzangst − wirksam werden.Zusammen mit den Faktoren, welche das System noch zusätzlich stabilisieren entsteht ein Fließgleichgewicht in Richtung Machtzuwachs, Verstärkung des Eingriffs in die Natur und Vervielfachung des Wirkens des einzelnen Menschen.

Technologieentwicklung

Die Geschichte menschlicher Erfindungen ist auch die Geschichte ungewollter Nebenwirkungen.Ohne Marx insgesamt zustimmen zu wollen – er hat doch Recht, wenn er feststellt, dass die den Menschen immer stärker einengenden Umstände weitestgehend von ihm selbst hervorgebracht wurden und werden. Dies gilt inbesondere hohem Maße für technische Erfindungen, welche allesamt die Biosphäre des Planeten und damit die Umwelt des Menschen grundlegend veränderten. Alle Technologien, die das unmittelbare Überleben von Nomaden und hernach von einfachen Bauern sichern, wurden bereits in vorgeschichtlicher Zeit entwickelt (z. B. Stein- und Metallwerkzeuge, Keramik,Rad, Pflug, Kleidung, Hausbau, Bewässerung). Bis zum 19. Jahrhundert konzentrierte sich der menschliche Erfindungsgeist in zunehmendem Maße auf Kriegsgerät, um dann in einer wahren Explosion an Kreativität alles, was die heutige technisierte Welt möglich gemacht hat, hervorzubringen: Dampfmaschine,Webstuhl, Eisenbahn, Automobil, Elektrotechnik, Elektronik, Düngemittel,Medizintechnik, Kommunikations- und Computertechnik, Biotechnologie. Das verglichen mit anderen geschichtlichen Zeiträumen äußerst kurze Wirksamkeitsintervall dieses Geschehens, das an Geschwindigkeit noch zugelegt hat, verändert die Welt grundlegend. Die Summe der unbeabsichtigten Nebenwirkungen stellt eine  massive Bedrohung der Grundlagen menschlicher Kultur, und, im Extremfall, desÜberlebens dar. Die nachstehende Darstellung verdeutlicht die Dialektik des Geschehens. 

Betrachtet man die derzeit vorrangigen Problemfelder und Risken und versucht man, sie zu quantifizieren, ergibt sich folgende Schlussfolgerung: Das kurzfristig weitaushöchste Risiko liegt derzeit im unkontrollierten Ausbruch von Verteilungskämpfen um die zur Neige gehenden Energie-, Wasser[v] - und Nahrungsmittelvorräte inVerbindung mit der Proliferation von Atomwaffen und der Auseinandersetzung zwischen der westlichen Industriegesellschaft und der islamischen Welt. Diese bereits sehr realen Friktionen könnten denkbare friedliche Bewältigungsstrategien (Millenniumsprogramm der Vereinten Nationen,Global Marshall Plan etc.) überholen und unmöglich machen. Insbesondere die aufstrebenden Regionen Asiens und deren Partnerschaften mit energiereichen Ländern (Russland, Iran, afrikanische Staaten) sind in diesem Kontext von Bedeutung, Auf diese Problematik wird zu Ende der Betrachtung noch näher eingegangen werden. 

Fehlentwicklungen

Das Folgende ist eine Zusammenfassung von vielen Meinungen, Diskussionen und Veröffentlichungen und erhebt keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit. Es stellt einen Versuch dar, sachlich und unparteiisch[vi] die wichtigsten Fakten zur aktuellen Art und Weise zu wirtschaften, mit Geld und Macht umzugehen und deren Folgen zu analysieren und Mittel gegen unerwünschte Auswirkungen dieses Tuns vorzuschlagen. Es wird sich zeigen, das alle diese Fragen trotz ihrer enormen Komplexität viel leichter zu beantworten sein werden, als das Erdachte wirksam in die Tat umzusetzen. Die Frage der Umsetzbarkeit ist jedoch für den Lösungssuchenden von zentraler Bedeutung. Man muss sich stets vor Augen halten,dass man es mit außerordentlich vielschichtigen Fragestellungen zu tun hat.Gerade diese Erkenntnis sollte man den Eiferern und Fundamentalisten aller Lager ins Stammbuch schreiben, die durch extreme Vereinfachungen,„Nothing-else-butteries“, den Anschein der Lösungskompetenz erwecken. Übrigens stammt das Scherz-Etikett „Nothing-else-buttery" von Julian Huxley, der damit die Mentalität von Fort- oder Zu-kurz- Erklärungen, z. B.  „Man is nothing else but...[vii]“) charakterisierte. Es wäre, in Kenntnis der Denkweise der allermeisten von ihnen, allerdings wohl einvergebliches Ansinnen.

(Die bisher veröffentlichten Episoden dieser Serie finden sich unter https://www.facebook.com/kwoltron/notes)

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Klaus Woltron

ist ein österreichischer Unternehmer , Buchautor und Kolumnist. Er ist Gründungsmitglied des Club of Vienna und war aktives Mitglied bis zum April 2008. Hier berichtet er u.a. über "Die Perestroika des Kapitalismus".

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