Die Perestroika das Kapitalismus - Episode 19: Der Zielkonflikt des Weisen Staatenlenkers (Klaus Woltron)

(Die bisher veröffentlichten Episoden dieser Serie finden sich unter https://www.facebook.com/kwoltron/notes) Nächste Episode: Die Tragik der Demokratie:  

Die ersten drei der vorhin aufgezählten Kräfte (Verzinsungs - Beschäftigungs - und  Auslastungsdruck - und haben eines gemeinsam: Sie rufen nach Verbrauch, ja Verschwendung. Sparsamkeit, Genügsamkeit, Vernunft bei Konsum und Kauf-Tugenden,welche die Österreichische Schule beim „homo oeconomicus“ voraussetzte – werden zu wirtschaftsschädlichen Verhaltensweisen. Ihre großen Gegenspieler sind die vierte und, insbesondere, die fünfte Kraft. Auf lange Sicht wird sich unausweichlich das eherne Gesetz der Endlichkeit aller Mittel durchsetzen. Wie könnte man, würde die Vernunft obsiegen, vorsorgen? Wohin mit Arbeitswilligen,Beschäftigungsnotwendigkeit, Anlage suchendem Kapital und zahllosen Fabriken mit Überkapazitäten? Was würde der „Wohlwollende Diktator“ wohl tun? 

Er nimmt einen bestimmten Prozentsatz an Arbeitslosen im produzierenden Sektor in Kauf und verzichtet auf weiteres materielles Wachstum. Die sodann Unbeschäftigten werden mit sozial und ökologisch Nützlichem befasst, wie in zunehmendem Maße die Bauern in der EU (übrigens aus ähnlichen Gründen). Er schichtet damit einen bestimmten Anteil an Arbeitsplätzen zum sozialen und ökologischen Dienst um,schafft „verordnete Nachfrage“ und transferiert sie damit in den nichtmateriellen Sektor.  

  1. Er widmet den Produktivitätszuwachs bzw. dessen Äquivalent an Gütern und/oder Kapital den Entwicklungsländern und verwendet dies dort zum Aufbau autonomer Infrastrukturen und Märkte. Ein Teil des Reichtums wird verlagert in der Hoffnung auf indirekten Gewinn (Umwegrentabilität, Multiplikator im Keynes´schen[i] Sinne) in fernerer Zukunft.
  1. Er verkürzt die produktive Erwerbsarbeitszeit (pro Tag, Jahr und Leben) auf jenes Maß, welches zur Aufrechterhaltung eines definierten materiellen Lebensstandards ausreichend ist.
  1. Er dämpft die Geschwindigkeit und Wucht des internationalen Kapitaltransfers. 

Diese zentralen Ziele baut seine tüchtige, von Geld und Lobbies nicht korrumpierbare Administration in ein fein austariertes Regelwerk von Umweltgesetzen, sozialen Regulativen,Änderungen des Gesellschaftsrechts und der Corporate Governance, Stoßdämpfern bei internationalen Finanztransaktionen etc. ein. All die angeführten Auswege aus dem Multilemma bedürfen äußerst massiver Änderungen zahlreicher wirtschaftlicher Regulative und stoßen an drei gewaltige Hürden: 

  1. - den massiven Widerstand etablierter, mächtiger Spieler im System;
  2. - die in jedem Falle vorübergehend stark sinkende Verzinsung des frei kursierenden Kapitals und eine ebenfalls zumindest vorübergehende Gefahr des Zusammenbruchs einzelner Sektoren der Wirtschaft;
  3. - die absolute Notwendigkeit der Chancengleichheit aller Wirtschaftssubjekte. 

So wohlwollend kann ein auch noch so mächtiger Diktator gar nicht sein, als dass er nicht angesichts der gewaltigen auftretenden Probleme seine Contenance verlöre. Entzögen sich z.B. auch nur ein weiterer Staat oder eine Region den neuen Regulativen, hätte dieser massive Wettbewerbsvorteile, die ein solches System sehr schnell zu Fall brächten. Wer könnte das verhindern? Die Macht des Diktators reichte dazunicht aus, er stürzte lediglich sein eigenes Land, des guten Willens und Rechthabens voll, ins wirtschaftliche Verderben. Auf die Lückenlosigkeit also käme es vor allem an − wie bei den Zehn Geboten. 

Schon dagewesen?

Das Gedankenexperiment erinnert an eine höchst reale Epoche  im 18. Jahrhundert. Joseph II. (1741−1790), Erzherzog von Österreich aus dem Geschlecht Habsburg-Lothringen,  war von 1765 bis 1790 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Joseph war ein Anhänger neuer, aufklärerischer Ideen. Nach dem Tod seiner Mutter Maria Theresia 1780 versuchte er, diese Ideen politisch umzusetzen.

Joseph II. versuchte den Einfluss des Adels und des Klerus zurückzudrängen. Die Leibeigenschaft der Bauern etwa wurde durch das Untertanenpatent 1781 aufgehoben. 1787 wurde die Ausarbeitung eines Bürgerlichen Gesetzbuches, die schließlich zum ABGB führen sollte, begonnen, 1787 wurde die Todesstrafe aufgehoben. Kurze Experimente mit der Pressefreiheit wurden allerdings wieder aufgegeben. Am radikalsten war seine Religionspolitik. Im Toleranzpatent wurde das Glaubensmonopol der Katholischen Kirche gebrochen – Protestanten und Juden durften ihren Glauben ausüben. Viele Abteien wurden geschlossen. Aufgrund der Überstürztheit und Radikalität seiner Maßnahmen war Joseph zu Lebzeiten höchst unpopulär und musste viele seiner Reformen wieder zurücknehmen. 

Er wird einerseits als fortschrittlicher Vertreter eines aufgeklärten Absolutismus gesehen,andererseits wird auch auf den zentralistischen Charakter seiner Herrschaft hingewiesen. Er war einer der wichtigsten Herrscher Österreichs, auf den viele konstruktive Ansätze zurückgehen und der einen bedeutsamen Reform- und Modernisierungsschub gebracht hat. Es hat allerdings über ein Jahrhundert gedauert, bis seine Ideen wieder in die Realität umgesetzt wurden.  Daraus kann man ersehen, dass es auch einem absoluten und durchaus "wohlwollenden" Herrscher nicht gut bekam,seiner Zeit um ein ganzes Jahrhundert voraus zu sein. Viel weniger noch wird eseiner demokratisch gewählten Regierung, die sich alle vier, fünf Jahre einer Neuwahl stellen muss, gut tun, sich derart weit aus dem Fenster zu lehnen. 

Das größte Problem bei radikalen Erneuerungen ist immer der Widerstand bestehender Ordnungen. Wenn eine Neuerung innerhalb eines schon fortgeschrittenen Systems oder Landes eingeführt wird, ändert sich das Gleichgewicht im Zusammenhang mit äußeren Systemen bzw. anderen Ländern:Wettbewerbsverzerrungen, andere Gesetze, andere Regeln und Gewohnheiten treten in ein neues Verhältnis und schaffen neue Spannungen. 

Die Grenzen der Gültigkeit von Regeln

Um zum Experiment unseres "Weisen Staatenlenkers“ zurückzukehren: Die Voraussetzungen fü rein Funktionieren dieses „Newest of all Deals“[ii] sind, was das Prinzip anlangt,uralt: Die Allgemeingültigkeit der Regeln. Beispiel dafür sind Verhaltensweisen, die in einigen der Zehn Gebote tabuisiert sind: „Du sollst nicht töten, Du sollst nicht stehlen“, etc. Diese hatten ursprünglich ebenfalls keineswegs weltweite Gültigkeit. Es  warfür die  Missionare im 19. Jahrhundert z.B.  sehr schwer, die Kannibalen auf den Südseeinseln und in der Karibik davon zu überzeugen, dass ihre traditionellen kulinarischen Gewohnheiten für den Lieben Gott ein Gräuel wären: 1867 soll der englische Missionar Thomas Baker in dem Dorf Nabutautau, das zu Fidschi gehört,auf Grund einer Tabuverletzung verspeist worden sein. Denn es galt auf den Fidschi-Inseln als Beleidigung, wenn man die Haare eines anderen berührte. Bei uns ist das eben anders. Selbstverständlich existieren auch in den sogenannten aufgeklärten Gesellschaften mächtige Tabus – Schutz der Kinder, der Schwachen, der persönlichen Sphäre, des Lebens etc., und sie werden auch durch teils massive gesellschaftliche Sanktionen gestützt. Eines der zahlreichen Probleme bei der Herstellung einer weltweiten "Regelgerechtigkeit" ist allerdings, dass Tabus und deren Sanktionen von Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich sind und deren Schnittmenge sich im Wesentlichen auf elementare Fragen des Naturrechts, das offensichtlich allen Menschen angeboren ist, beschränkt. 

Werden Tabus ohne Sanktion bewusst übertreten, schaffen sie für den „Sünder“ Wettbewerbsvorteile,die so massiv sind, dass ein erträgliches soziales Leben nicht mehr möglich ist. Ein Beispiel aus gewohnterer Sphäre: Ein Räuber, der sich nicht erwischen lässt, hat einen gewaltigen wirtschaftlichen Wettbewerbsvorteil gegenüber einem gesetzestreuen Bürger. Die Regeln entstanden aus der Erfahrung, dass es langfristig für alle besser ist, den gewaltsamen Zugang zu massiven kurzfristigen individuellen Vorteilen zu tabuisieren. Die Geschichte ihres Entstehens ist für die Prognose unseres Gedankenexperiments essentiell und verdiente, gerade deshalb nochmals genauestens studiert zu werden: Das Faustrecht in der Gesellschaft bewährte sich nicht, obgleich sich bestimmte Minderheiten immer noch danach zu sehnen scheinen. 

Wie kann nun das im Moment ganz selbstverständlich ausgeübte Faustrecht gegenüber der Natur systematisch abgeschafft werden, ohne große Systemzusammenbrüche zu riskieren?Werden die durch die Wanderung verzweifelter Menschen ausgelösten Konflikte schneller zum Ausbruch von Gewalt und Chaos führen als die Konsequenzen einer nicht oder fehlerhaft gesteuerten Wirtschaft? Wie interagieren diese großen Instabilitätsfaktoren? Wie dumm, blind und ohne Weitblick kann die Menschheit kollektiv wirklich sein? Und wie kann eine in sich stimmige Lösung, sollte sie denn nun gefunden werden, gegen alle Widerstände intellektuell überleben und sich letztendlich durchsetzen, wie die Lehren großer Religionsstifter und Moralisten? Wo ist (Gott möge abhüten), der Große Bruder, der dieses Titanenwerk vollbringt? Und hat man dann nicht den Teufel mit Beelzebub ausgetrieben? 

Die Frage, ob sich das Wechselspiel der Kräfte in Wirtschaft und Gesellschaft selbstorganisierend, "autopoietisch" zu einem Optimum für die Menschen hin entwickelt, stellt einen der wichtigsten Streitpunkte zwischen Liberalen und Dirigisten dar. In den letzten Jahren nimmt die Brisanz dieses Themas naturgemäß wieder stark zu. Der Herausforderung,die auch die Notwendigkeit und Chance zum Beschreiten kreativer neuer Wege in sich birgt, wird allzu oft zu geringer Raum gewidmet. Der Rückblick auf die österreichische nationalökonomische Schule gibt da wenig Hilfe, weil diese Herausforderungen damals ganz einfach nicht existierten und daher auch kein Thema darstellten. Eine Berufung auf die Lösungen Böhm-Bawerks, Wiesners,Schumpeters und auch zum Teil Hayeks scheint verzweifelte Ähnlichkeit mit den Bemühungen eines Computertechnikers zu haben, bei  einem IT-Netzwerk-Systemcrash Hilfe in den Schriften von James Watt oder der Gebrauchsanweisung Henry Fords für die Tin Lizzy zu suchen.

[i]9 Keynes, John Maynard, Fritz Waeger,  Allgemeine Theorie der Beschäftigung, desZinses und des Geldes, Veröffentlicht von Duncker & Humblot, 1936

[ii] Der New Deal begann mit dem Amtsantritt des Präsidenten Franklin Delano Roosevelt1933 und war ein Bündel von Wirtschafts- und Sozialreformen in den USA, das mit massiven staatlichen Investitionen die Binnenkonjunktur ankurbeln und, zusammen mit der Einführung eines Sozialversicherungssystemsprogressiver Besteuerung und massiver Arbeitszeitverkürzung, die durch die Weltwirtschaftskrise verursachte Massenarbeitslosigkeit und-armut lindern sollte. 



(06.04.2015)

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Klaus Woltron

ist ein österreichischer Unternehmer , Buchautor und Kolumnist. Er ist Gründungsmitglied des Club of Vienna und war aktives Mitglied bis zum April 2008. Hier berichtet er u.a. über "Die Perestroika des Kapitalismus".

>> https://www.woltron.com/


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