Die Perestroika des Kapitalismus - Episode 5: Glasnost - Licht ins Dunkel(Klaus Woltron)

Notwendiges und schädliches Wachstum

Es ist unverkennbar, dass steigendes Bevölkerungswachstum und der Nachholbedarf der Schwellen- und Entwicklungsländer zu einer Ausweitung des realen Wirtschaftsbereichs, also einer Zunahme des weltweiten Warenumschlags, führen müssen. Dass dieser Zuwachs aber weltweit sehr ungerecht verteilt ist, dass er nach Erfüllung der lebensnotwendigen Bedürfnisse zunehmend um seiner selbst willen, also auch für unnötige oder sogar schädliche Aktivitäten gefördert wird, stellt bereits eine Fehlentwicklung dar. Die gefährlichen Störungen der ursprünglich sinnvollen und nutzbringenden Markt- und Wettbewerbswirtschaft, die in den letzten Jahrzehnten weltweit errichteten Kartenhäuser aus Finanzkonstrukten und Spekulationen jenseits jeglicher Realwirtschaft, sind im Sinne einer gerechten und nachhaltigen Erfüllung der Bedürfnisse aller Menschen ebenfalls in höchstem Maße schädlich.  Das ist die hässliche  und unerwünschte Seite der Entwicklung der Markt- und Geldwirtschaft in Richtung unkontrollierten Neoliberalismus´.   

Glasnost: Licht ins Dunkel

 

Die folgenden Abschnitte befassen sich mit den gängigen Begriffen und sind den wirksamen Kräften und den verschiedenen Trends gewidmet. Nur nach einer solch mühsamen Wanderung durch das Dickicht der Wechselwirkungen wird es möglich sein,einigermaßen treffsichere Diagnosen zu stellen und Therapien zu entwickeln.Diese werden im Abschnitt "Perestroika" angeführt. Dass der Erfolg der Perestroika in unserem Beispiel − der Transformation, des Umbaus des kommunistischen Reichs − ausblieb, sich aber dennoch Wege zu ganz neuen Ufern auftaten, sollte auch bei unseren Überlegungen zu einigem Optimismus anregen. 

 

Ungleichheiten

 

Gerade in den letzten Jahrzehnten zeigt sich, dass die Gewinne aus Geldvermögen wesentlich stärker gestiegen sind als aus körperlicher oder geistiger, nicht unmittelbar mit dem Finanzwesen verbundener Arbeit. 

Obgleich die Globalisierung weltweit zu einer Hebung des materiellen Wohlstandsniveaus geführt hat, war und ist der Zuwachs an materiellen Segnungen sehr ungleich verteilt. Die Reichen wurden viel schneller reich als die Armen etwas weniger arm. Das Geldvermögen wächst schneller als Nettolöhne und Gehälter (Scherhorn, Lit. [i])

 

 Dies gilt sowohl im weltweiten Maßstab – also bezogen auf die Unterschiede zwischen Industriestaaten und Schwellen- und Entwicklungsländern – als auch, in unterschiedlicher Intensität, innerhalb der Staaten, auf Ebene der nationalen Bevölkerungen. Wer bereits begütert ist,vermag auf Grund der vielen Vorteile, die damit verbunden sind, bzw. die er sich damit verschaffen kann, einen schnelleren weiteren Zuwachs zu erringen:„The winner takes it all“ oder, wie man in Österreich sagt: „Wo Tauben sind, fliegen Tauben zu“. Die Gründe dafür sind äußerst vielfältig. Kapitalgewinne waren in den letzten Jahrzehnten in der Regel höher als jene aus operativer Tätigkeit,also aus der realen Wirtschaft. (In der zweiten Hälfte des Jahres 2008 wurde ein Teil dieser Gewinne durch die Finanzkrise allerdings wieder vernichtet). Dieser Vorteil kommt ausschließlich jenen zugute, die frei disponierbares Kapital zur Verfügung haben. Begüterte – gleich, ob Einzelne oder Staaten – können mehr in Bildung, Wissensaufbau usw.  investieren und damit ihre überlegene Position stabilisieren. Sie können gespartes Kapital an ihre Nachkommen weitergeben und ihnen damit einen besseren Start ermöglichen. Militärische Systeme beleben zwar die Wirtschaft kosten aber auch enorm viel Geld und können nur durch gewaltige Kapitalvolumina stabil gehalten werden. Gespartes Kapital,investiert in Unternehmen in den Entwicklungs- und Schwellenländern, vermag die dortige schnell wachsende Wirtschaftskraft zusätzlich zu nutzen. Aus all diesen  und noch vielen anderen Gründen tendiert Kapital, angesammelte Macht, dazu, sich in den Händen dessen, der viel davon  besitzt, schneller und zuverlässiger zu vermehren als in den Händen jener, die nur kärglich damitausgestattet sind. Es ist allerdings ein großer Unterschied, ob gesammeltes Kapital in sinnvolle und, gesellschaftlich gesehen, nachhaltige Projekte undFirmen, also in die Realwirtschaft, investiert wird, oder ob es in Sekundenschnelle quer über den Globus transferiert wird, um den geradeherrschenden Kursen und Spekulationen nachzujagen und schnellen Profit ohne materielle Leistung zu generieren. Letzteres ist eine böse Fehlentwicklung und gehört genauso verboten wie sonstige Glücksspiele. Unter anderem wegen der Suchtgefahr gilt Glücksspiel ja in vielen Gesellschaften als unmoralisch. Ungeregeltes Glücksspiel ist in den meisten Staaten sogar illegal und wird oft von der organisierten Kriminalität betrieben; legales Glücksspiel unterliegt meist diversen Einschränkungen.  

 

Soviel zu den wichtigsten Aberrationen. Bis zum jüngsten Zusammenbruch  (2008)überwog die Dynamik des Aufschwungs langfristig jene der periodisch eintretenden Abstürze auf den Kapitalmärkten. Das muss aber nicht immer so bleiben und ist Gegenstand hitziger Auseinandersetzungen in Kreisen der Nationalbanken, Investmenthäuser und Anleger. Ob die offensichtlichen Analogien aus dem Tierreich wirklich schlüssig sind, bleibe dahingestellt- eindrucksvoll sind sie allemal:  Jene sozialen Wesen,denen es gelingt, bedeutende Vorräte für alle anzulegen und damit auch schlechte Zeiten zu überstehen, haben die ganze Welt erobert und über Millionen Jahre ihren Bestand gesichert: Ameisen und Bienen, Musterbeispiele für die Sammlung, Konservierung und optimale Nutzung von „angesparter“  Lebenskraft und damit Macht. Sie haben mit diesem Lebensmuster Saurier, Säbelzahntiger und Mammut überlebt. Ein großer Unterschied zum Menschen allerdings muss ausdrücklich betont werden: Sie haben gelernt, perfekt zusammenzuarbeiten und zu teilen. Das ist in ihren Genen fest und unverrückbar festgeschrieben. 

 

Die neuen Apokalyptischen Reiter

 

Nachdem die Menschen„in ihrer Frevelhaftigkeit unerlaubter Weise das Buch mit sieben Siegeln“[ii] geöffnet und damit die vier Apokalyptischen Reiter gerufen hatten, erschienen jene mit ihren GeißelnKrieg, Hunger, Krankheit und Tod. Sie stellen seit biblischen Zeiten die vorherrschenden Ängste der Menschen dar. Daran hat sich bis heute nichts geändert; sie treten lediglich in anderer Verkleidung und unter geänderten Verhältnissen auf. Man kann sie in folgende Kategorien zusammenfassen:

- Ungleich-Verteilung des Wohlstandes

-Ressourcenverschwendung, Umweltbeeinträchtigung und Klimawandel aus Gründen kurzfristigen wirtschaftlichen Profits (schnelle hohe Rendite)

- Kapitalakkumulation und Missbrauch materieller Macht

- Erosion demokratischer Systeme bzw. Duldung bestehender Feudalsysteme aus wirtschaftlichen oder strategischen Gründen

- Instabilitäten des Finanzsystems.

 

Neoliberalismus und Globalisierung werden oft reflexhaft als alleinige Verursacher dieser Fehlentwicklungen genannt.  In vielen Belangen, allerdings unter gänzlich anderen Umständen, besteht heute eine ähnlich kritische Situation wie im Krisenjahr 1987 in Russland, diesmal aber in einem anderen System und in ungleich größerem, weltumspannendem  Rahmen. Auch damals häuften sich die Indizien für eine Systemkrise, auch damals wurde eine solche von den Etablierten kleingeredet und -geschrieben, bis der Druck der Unzufriedenen und Belogenen so groß wurde,dass das ganze Kartenhaus innerhalb kurzer Zeit einstürzte. Ein Wunder ist,dass dabei nicht allzu viele Menschen ums Leben kamen und sich die Gewalt nicht wirklich Bahn brechen konnte. Dies lag im Wesentlichen daran, dass es beherzte Protagonisten an höchster Stelle gab, die der Wahrheit zum Durchbruch verhalfen, und dass ein gesellschaftliches Modell – Marktwirtschaft undKapitalismus – als bereits existierendes Muster für eine Neuordnungumsetzungsbereit zur Verfügung stand. Man brauche es nur zu kopieren,einzuführen, und das Heil wäre da − glaubte man. 

Bis zu einemerheblichen Grad funktionierte das auch, obgleich, wie immer nach Revolutionen,ein nicht geringer Teil der Revolutionäre ein kurzes Gedächtnis hat und angesichts neuer Probleme die meist viel größeren alten, derentwegen man revoltierte,  verdrängt und den „guten alten Zeiten“ töricht nachtrauert. Das Problem, das uns heute bedrängt, besteht darin, dass auch das neu etablierte System mittlerweile nach Erneuerung schreit. Im Unterschied zur Situation Ende der Achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts stehen aber keine überzeugende Alternativmodelle parat – und noch weniger vertrauenswürdige Protagonisten. 

 

Die Frage, wie weit man von einem wirklichen Systemzusammenbruch (damals waren es nur vier Jahre)entfernt ist, wird sich naturgemäß nur mit Schätzungen beantworten lassen. Der Klimawandel, die Rohstoff-, Nahrungsmittel- und Energieverteuerung und die 2008 eingetretenen riesigen Verluste an den Weltbörsen lassen nichts Gutes erwarten,detto deren mehrheitlich auf unglaubliche Leichtfertigkeit, Lug und Truggründende Ursachen. Die Kernfrage ist nicht mehr, ob es systemische Lösungsmöglichkeiten für die sich immer mehr verstärkenden Krise gibt, sondern ob die Menschheit in der Lage sein wird, diese friedlich umzusetzen. Wege aus der Krise gibt es – doch „es kömmt“, frei nach Karl Marx,„auch darauf an, sie beschreiten zu können“. 

[i]G. Scherhorn, Vortrag beim Symposium „Kapitalismus gezähmt? Pro und contra Neoliberalismus“ des Club of Vienna am 22. Januar 2004

[ii]Die Bibel; Offb 6,2

 

(Die bisher veröffentlichten Episoden dieser Serie finden sich unter https://www.facebook.com/kwoltron/notes)

 


(27.10.2014)

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Klaus Woltron

ist ein österreichischer Unternehmer , Buchautor und Kolumnist. Er ist Gründungsmitglied des Club of Vienna und war aktives Mitglied bis zum April 2008. Hier berichtet er u.a. über "Die Perestroika des Kapitalismus".

>> https://www.woltron.com/


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