Die Perestroika des Kapitalismus: Episode 12: Entfremdung im verselbständigten System (Klaus Woltron)

 

 Der Unternehmer – der frühere Meister – entfernte sich immer weiter von seinem Produkt und wandelte sich zum Organisator komplizierter technischer und kommerzieller Abläufe. Sein Interesse und Stolz galt immer mehr diesen produktfernen Kategorien; mit zunehmender Notwendigkeit der Beherrschung großer Kapitalvolumina und Vertriebsorganisationen wurde er, oft nolens volens, zum Großkapitalisten, der der Aufbringung und Verwaltung riesiger Summen einen Großteil seiner Phantasie und Arbeitskraft zuwenden musste. Der Arbeiter verlor ebenfalls den Bezug zum Produkt: Seine Tätigkeit wurde immer mehr zu einer Abfolge monotoner Handgriffe.Karl Marx weist in seiner Kritik der politischen Ökonomie[i] darauf hin, dass unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen die Lohnarbeiter gezwungen sind, ihre Arbeitskraft an die Eigentümer der Produktionsmittel zu verkaufen. Damit nimmt die Arbeitskraft Warencharakter an.

 

Die zunehmende Mechanisierung und der Zwang zur Rationalisierung wurden immer stärker. Die Konkurrenz zwischen den einzelnen Unternehmen nahm zu und wirkte sich über immer größere Entfernungen aus. Der Gegensatz zwischen Unternehmern und unselbständig Erwerbstätigen wuchs und erreichte im 19. und 20. Jahrhundert Ausmaße, welche letztendlich zu Revolutionen und schweren sozialen Auseinandersetzungen in vielen Industriestaaten – auch in den USA − führten.Dieses Syndrom bezeichnete Karl Marx, wie schon erwähnt, als Entfremdung. Das Arbeitsprodukt entfremdet sich ihm, und er entfremdet sich auch seinen Mitmenschen.  

Die Verhältnisse haben sich jedoch im Zuge der weiteren Entwicklung erneut verändert. Die Ansprüche z.B. eines Autoproduzenten von sind heutzutage völlig an­ders als zu Zeiten Henry Fords. (Ein berühmter Ausspruch Henry Fords: "Bei uns kann man Autos jeder Farbe kaufen, vorausgesetzt, sie ist schwarz"). Schneller Modellwechsel,individuelle Wünsche an das Fahrzeug; Typenvielfalt, Farbe, Sonderausstattung verlangen vom Produzenten und der logistischen Kette eine geradezu unglaubliche Flexibilität, Geschwindigkeit und Präzision. Ein Unternehmen wie jenes, das über Jahre hinweg Tin Lizzies, Einheitsfarbe schwarz, zur Verfügung stellte,wäre einem solchen Chaos − als das hätte man es empört empfunden − völlig hilf­los gegenübergestanden. 

Der Arbeiter, der zwar immer noch an einem Fließband werkt, aber heute wieder viel stärker in das Geschehen eingebunden ist als bei der Herstellung des vergleichsweise primitiven Ur-Ford, erhält einen wieder größeren und verantwortlicheren Wirkungskreis; er wird in Planungsprozesse und Produktverbesserungs- Programme eingebunden, seine Entfremdung dadurch wieder reduziert. Dennoch bleibt er ein eher machtloses und leicht manipulierbares Subjekt in einem riesigen technisch-organisatorischen Gefüge. Je mehr man die Arbeit teilt, desto mehr wird das Fehlen der Gesamtschau, die verloren gehende Identifikation mit dem Produkt bedauert. Wir beklagen den Untergang der Universalisten, fördern aber zugleich das zum Fachidiotentum ausartende Spezialistenwesen("Kernkompetenzen") und setzen uns in den Bildungsinstitutionen stärker dafür ein, dass die Lerninhalte auf die praktische"Verkaufbarkeit" hin überprüft werden. Sodann bestaunen wir umso mehr die seltenen Nachfahren von Humboldt, Leibniz & Co, die es trotz oder gerade deswegen zum Universalisten schaffen.

Gefangene des Systems

Dies gilt übrigens auch für alle anderen Agierenden im Geflecht eines im Besitz anonymer Aktionäre befindlichen, multinationalen Unternehmens: Die Analysten und Börsenhändler halten sich bei ihren Investititionsentscheidungen an die Kurse und ihre Einschätzung der Zukunftspotentiale – oder sie führen komplizierte Spekulationen durch. Analysten haften nicht für ihre Empfehlungen,und manche von ihnen sind auch nicht gegen sachfremde Einflussnahme  Dritter – zu deren Gunsten – gefeit. Aktionäre haben einen nur sehr geringen oder gar keinen Einfluss, je geringer ihre Aktienanteile sind. Der Aufsichtsrat der Gesellschaft ist von der Zustimmung einer großen und meist schwer und über manipulative Prozesse lenkbaren Zahl von Aktionären abhängig. Er wird von diesen oder deren Vertretern entsprechend ihren Unternehmens (Aktien)- Anteilen bestimmt. Der Aufsichtsrat setzt einen Vorstand seines Vertrauens ein, der seinerseits von der Gunst des Aufsichtsrats abhängig ist. Insbesondere in großen Unternehmen ist es für das einzelne Aufsichtsratsmitglied in der Regel schwer, sich ein aktuelles und transparentes Bild der Lage der Gesellschaft zu verschaffen, insbesondere dann, wenn  dem Vorstand daran nicht gelegen ist. Der Vorstand wiederum fällt bei Nichterreichen der vorgegebenen Ziele oder dem Nicht-Eintreten der erhofften Kurssteigerungen sehr schnell in Ungnade und scheidet aus dem Kreislauf aus. Demzufolge wird er alles tun, um diesen Fall nicht eintreten bzw. nicht offenbar werden zu lassen. Auch ist sein Spielraum  viel enger, als es nach außen hin den Anschein hat. In der Regel erfolgt die Vorgabe von Zielen seitens der Organe des Aufsichtsrates recht autoritär und ohne lange Diskussion. 

Die Honorierung der einzelnen Spieler in diesem Karussell ist extrem unterschiedlich, auch das Ausmaß der ihnen zugestandenen Macht. Die Handlungsspielräume aber sind für alle relativ eng und unterliegen dem systemimmanenten und anonymen, von keinem der Spieler im System nennenswert beeinflussbaren Prinzip der Gewinn- bzw. Kursmaximierung.  Das ganze System ist in sich rückgekoppelt und hat sich von seiner ursprünglichen Bestimmung – der Optimierung der Effizienz der Produktion nützlicher Güter − immer weiter entfernt. Es verselbständigte sich und gemahnt verräterisch an die Goethe'sche Parabel vom Zauberlehrling.

 

Vater und Sohn Binswanger – Ersterer in seinem Werk Geld und Natur[iii]“,  Letzterer in mehreren Arbeiten, u.a.  im Rahmen des Club of Vienna[iv] – haben überzeugend  nachgewiesen, dass eine stabile Wirtschaftsentwicklung nach heute üblichem Muster nur möglich ist, wenn sie –in Umsätzen oder Nationalprodukt ausgedrückt – geldwertmäßig jährlich zumindest etwa um 2–3 % wächst. Dies ist auf den inneren Zwang zur Verzinsung des eingesetzten Kapitals (der Bedienung von Schulden bzw. des Ansparens von Investitionskapital zwecks Sicherung der Konkurrenzfähigkeit) zurückzuführen und ein von niemandem angezweifelter Grundpfeiler der heutigen Geldwirtschaft. Die"Parabel vom Goldschmied" zeigt den Mechanismus trefflich. Alle bisherigen Anläufe, diesem Zwang durch dirigistische Maßnahmen (Lohn- und Preiskontrollen) oder andere planwirtschaftliche Maßnahmen zu entkommen,endeten im wirtschaftlichen Desaster. Auch die zahlreich angestellten Versuche,die positive Rückkopplung dieser Entwicklung durch negative Verzinsung (Freigeldsysteme, s. Seite XY) einzudämmen, sind bis dato erfolglos geblieben. 

Ein mehrjähriges Projekt des Club of Vienna, diverse Varianten von Freigeldsystemen (Gesell[v], Färber[vi] et. al) computertechnisch darzustellen und damit einer Realisierung näher zu bringen, scheiterte daran,dass die im Projekt damit befassten Vertreter dieser Denkrichtungen keinen in sich geschlossenen Algorithmus[vii] für ihr System liefern konnten und daher auch kein Modell  – in Ermangelung eines entsprechenden konzis definierten, formelmäßig erfassbaren gedanklichen Gebäudes – möglich war. Im Gegensatz dazu ließ sich die verwickelte  Logik der  herrschenden Form der Geldwirtschaft mit dem eingangs erwähnten Ergebnis im Modell klar abbilden.


[i] Karl Marx; Zur Kritik der Politischen Ökonomie; Geschrieben August 1858 bis Januar 1859.Erschienen 1859 bei Franz Duncker, Berlin. Zitiert aus: Gesamtverzeichnis derMarx/Engels – Werke, http://www.mlwerke.de/me/default.htm

[ii]K. Marx,  Das Kapital, Verlag Dietz,Berlin (September 2007); 

  ISBN-10:3320002627; ISBN-13: 978-3320002626 

[iii]Hans Christoph Binswanger, „Geld und Natur“, Weitbrecht Verlag (1991) ISBN-10: 3522704509 

[iv]Mathias Binswanger: Gibt es einen Wachstumszwang? Vortrag am 19. Nov. 2007 inWien – s. auch http://www.clubofvienna.org/website/output.php?id=1838

[v]Johann Silvio Gesell (* 17. März 1862 in Sankt Vith (heute Belgien);† 11. März1930 war Kaufmann,Finanztheoretiker, Sozialreformer und Begründer der Freiwirtschaftslehre.

[vi]Heinrich Färber (* 22.September 1864in Neu Sandez (heute Nowy Sącz,Polen); † 15. Dezember 1941 in Łódź,Polen) 

[vii] Algorithmus:Eine genau definierte Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems oder einer bestimmten Art von Problemen in endlich vielen Schritten (z. B.  ein Computerprogramm).

(Die bisher veröffentlichten Episoden dieser Serie finden sich unter https://www.facebook.com/kwoltron/notes)



(02.02.2015)

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Klaus Woltron

ist ein österreichischer Unternehmer , Buchautor und Kolumnist. Er ist Gründungsmitglied des Club of Vienna und war aktives Mitglied bis zum April 2008. Hier berichtet er u.a. über "Die Perestroika des Kapitalismus".

>> https://www.woltron.com/


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